Bagatellfälle in der Notfallstation: Problem oder Scheinproblem?

In regelmässigen Abständen berichten Medien von überfüllten Notaufnahmestationen in den Spitälern mit gestresstem Personal und langen Wartezeiten für die Patienten. Die Politik will hier eingreifen und mithilfe einer Strafgebühr die Notaufnahmestationen von Bagatellfällen entlasten. Auf den ersten Blick eine elegante Lösung. Ob sich damit etwas bewegen lässt, hängt aber massgeblich davon ab, wie ausgeprägt das Problem ist.

06.09.2024
Markus Näpflin
6 Minuten

Eine solche Strafgebühr verlangt die parlamentarische Initiative 17.480 aus dem Jahr 2017, die aktuell in den Gesundheitskommissionen von National- und Ständerat behandelt wird. Konkret verlangt die Initiative, dass «alle Patienten, die eine Spitalnotfallpforte aufsuchen, vor Ort eine Gebühr von beispielsweise 50 Franken bezahlen müssen».
Da eine solche Gebühr nicht verfassungskonform ist, schlägt die Politik vor, den Selbstbehalt nach jeder Konsultation der Spitalnotfallaufnahme zu erhöhen. Nach dem Ständerat hat nun auch die Kommission des Nationalrats die Initiative für einen Patientenbeitrag bei Inanspruchnahme von Notfallaufnahmen gutgeheissen.

Zahlen zeigen klare Tendenz in Notfallstationen

Tatsächlich zeigen auch die Abrechnungsdaten von Helsana, dass die Anzahl Konsultationen in Notaufnahmestationen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Dies ist für die Spitäler ein Problem, weil sie immer mehr Ressourcen bereitstellen müssen. Das wird schliesslich auch für die Prämienzahler zur Belastung, weil spitalambulante Konsultationen doppelt so teuer sind wie durchschnittliche Konsultation in den Arztpraxen1. Und nicht zuletzt ist es für die Patienten mit echten Notfällen ein Problem, wenn Notaufnahmen mit zu vielen Bagatellfällen belegt sind.

Und genau um diese Bagatellfälle geht es den Initianten. Eine Definition von Notfallbehandlungen ist im KVG mit Artikel 64a Abs. 7 gegeben. Dort heisst es: «Eine Notfallbehandlung liegt vor, wenn die Behandlung nicht aufgeschoben werden kann. Dies ist der Fall, wenn die versicherte Person ohne sofortige Behandlung gesundheitliche Schäden oder den Tod befürchten muss oder die Gesundheit anderer Personen gefährden kann». Eine Definition von Bagatellfällen gibt es hingegen nicht und dementsprechend wird auch keine Statistik dazu geführt.

Mit Abrechnungsdaten lassen sich solche Fälle aber näherungsweise bestimmen: Bei Fällen in einer Notaufnahmestation, bei welchen in den 30 Tagen zuvor und danach kein weiterer Leistungsbezug stattfindet (ausser einem allfälligen Medikamentenbezug in einer Apotheke), kann angenommen werden, dass der Notfall-Besuch nicht zwingend gewesen ist. Es zeigt sich, dass der Anteil an Bagatellfällen über die Jahre hinweg von 10% im Jahr 2014 auf 7% im Jahr 2023 gesunken ist.

Abbildung 1: Jährliche Anzahl Fälle in Notaufnahmestationen

Quelle: Helsana

Eine Auswertung nach Wochentagen zeigt, dass Notfallstationen häufiger am Wochenende als unter der Woche aufgesucht werden. Bei Bagatellfällen ist dies noch ausgeprägter. Offenbar entspricht es einem Bedürfnis der Bevölkerung, auch abends und an Wochenenden, wenn ihr Hausarzt nicht erreichbar ist, medizinische Beratung in Anspruch zu nehmen. Ob sich Personen, die wegen einer Bagatelle die Notfallstation aufsuchen, von einer Gebühr abhalten lassen, ist ungewiss. Kommt hinzu, dass sich für diejenigen Versicherten, welche Franchise und Selbstbehalt noch nicht ausgeschöpft haben, gar nichts ändert: Sie Zahlen den Rechnungsbetrag sowieso selbst. Doch wohin sollen sich ratsuchende Patientinnen und Patienten wenden, wenn sie am Wochenende Beschwerden verspüren?

Abbildung 2: Notaufnahme Fälle pro Wochentag

Quelle: Helsana

Telmed-Modelle als Entlastung für Notfallaufnahmen

Ärztinnen und Ärzte sind nach dem Medizinalberufegesetz zur Mitwirkung in einer Notfalldienstorganisation verpflichtet. Die Ärzteschaft im Kanton Zürich betreibt beispielsweise zu diesem Zweck das «Ärztefon», welches unter der Nummer 0800 33 66 55 als Anlaufstelle für nicht lebensbedrohliche medizinische Notfälle dient. Leider ist diese Nummer immer noch wenig bekannt und seit 2021 ist die Anzahl der Anrufe für diesen Service sogar rückläufig2.

Ein weiteres und naheliegendes Angebot bieten Krankenversicherungen mit alternativen Versicherungsmodellen. Bei sogenannten Telmed-Modellen wird bei einem medizinischen Anliegen ein rund um die Uhr verfügbares Zentrum für Telemedizin kontaktiert. Medizinische Fachpersonen beurteilen die Dringlichkeit weiterer Behandlungsschritte und verfügen in gerechtfertigten Fällen eine Überweisung an eine Notfallstation. Diese Art der Hilfestellung scheint bei der Bevölkerung gut anzukommen, immer mehr Versicherte wechseln vom Standardmodell in Versicherungsmodelle mit telemedizinischem Angebot.

Wenn sich dieser Trend weiter fortsetzt, hilft dies einerseits den Versicherten. Sie erhalten kompetent und bequem am Telefon Beratung, bevor sie den Weg zur und die Wartezeit in einer Notfallaufnahme auf sich nehmen müssen. Andererseits dürfte dies auch zu einer Entlastung der Notaufnahmestationen beitragen - ganz ohne regulatorischen Eingriff. Auch mit Blick auf die Statistik macht die Forderung der parlamentarische Initiative wenig Sinn: In den Ambulatorien fällt die Zahl der Bagatellfälle deutlich geringer aus als erwartet, weshalb eine Notfallgebühr statt der gewünschten Entlastung bloss mehr administrativen Aufwand verursacht. Mit Gebühren auf Bagatellen zu schiessen, mag zwar verlockend sein, bleibt aber ein Schuss ins Blaue, der weder zum Ziel noch zu einer sinnvollen Lösung für alle führt.

1 Quelle: Initiativtext P.I. 17.480
2 Quelle: Geschäftsberichte Ärztefon 2018-2023