Psychotherapie-Kosten: So hoch wie erwartet

Fast zwei Jahre nach dem Systemwechsel in der Psychotherapie vom Delegations- zum Anordnungsmodell zeigen die Analysen mit den Helsana-Abrechnungsdaten, dass sich die Kosten wie erwartet entwickelt haben. Einen relevanten Effekt hat der Bund in seiner Prognose jedoch nicht berücksichtigt.

23.05.2024
Andrea Bischof / Dr. Melanie Amrein
6 Minuten

Seit Mitte 2022 können Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ihre Leistungen selbstständig in der Grundversicherung (OKP) abrechnen. Davor arbeiteten sie in Delegation, also unter ärztlicher Kontrolle, und zwar bei Medizinern mit spezifischer Fachausbildung, beispielsweise Psychiatern. Selbstständige Therapeuten und Therapeutinnen hatten vor dem Systemwechsel die Möglichkeit, Leistungen über die Zusatzversicherung (VVG) abzurechnen.

Mit dem Systemwechsel soll der vereinfachte und niederschwellige Zugang zur Psychotherapie ermöglicht und Versorgungsengpässe reduziert werden. Als Folge davon wurde eine Verschiebung der Kosten von der Zusatzversicherung und der Selbstzahlung in die OKP erwartet. Seit dem Systemwechsel ist medial von explodierenden Kosten die Rede, der Bund habe sich massiv verschätzt. Mit Helsana- Daten haben wir das überprüft.

Seit Jahren wächst der Bedarf an Psychotherapie

Bereits vor dem Systemwechsel lässt sich ein Trend zu mehr psychotherapeutischen Leistungen feststellen. Abbildung 1 zeigt die stetige Zunahme der Kosten für psychotherapeutische Leistungen1 über die letzten fünf Jahre in der OKP. Die Wachstumsrate lag vor dem Systemwechsel bei rund 3.5%. Auch in der Zusatzversicherung wuchsen diese Kosten vor dem Systemwechsel mit 13.5% sogar noch stärker. 

Der Vergleich mit 2022 ist nicht sinnvoll, um den Systemwechsel aussagekräftig zu analysieren. Dieser wurde Mitte des Jahres 2022 und mit einer Übergangsfrist eingeführt, daher widerspiegelt der Vergleich zwischen 2021 und 2023 die Kostendifferenz genauer. Wie erwartet, kam es in diesem Zeitraum zu einem stärkeren Anstieg in der OKP als in den Vorjahren; über zwei Jahre um rund 300 Millionen Franken (+51%).

Abbildung 1: Gesamtkosten der psychotherapeutischen Leistungen in der OKP

Quelle: Helsana Abrechnungsdaten, hochgerechnet auf die gesamte in der Schweiz wohnhaften Bevölkerung

Verschiebung vom Privatmarkt in die OKP

Die höheren Kosten in der OKP sind unter anderem bedingt durch die Verschiebung aus dem Privatmarkt der Zusatzversicherung und der Selbstzahler. Die Daten aus der Helsana-Zusatzversicherung zeigen diese Verschiebung (Abbildung 2): Hier kam es zu einer starken Abnahme von etwa 18 Franken auf knapp 4 Franken pro versicherte Person zwischen den Jahren 2021 und 2023.

Abbildung 2: Kosten pro versicherte Person in der Helsana Zusatzversicherung

Quelle: Helsana Zusatzversicherung Abrechnungsdaten

Tarifpartnerschaftliche Lösung wurde gefunden

Ein weiterer Grund für das Wachstum in der OKP ist der höhere Stundenansatz der nun selbstständig arbeitenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Eine Stunde Therapie im alten Delegationsmodell kostete durchschnittlich 135 Franken. Mit der Einführung des Anordnungsmodells wurden höhere Zulassungsvoraussetzungen vorgeschrieben. Zudem tragen die Therapeutinnen die Verantwortung für die erbrachte Therapieleistung und müssen durch die Selbstständigkeit auch ihre Beiträge an AHV, Pensionskasse und Unfallversicherung sowie weitere anfallende Kosten wie Miete, IT-Infrastruktur, etc. selbst übernehmen. Daher ist ein höherer Stundenansatz sachgerecht. Dieser wurde zwischen den Tarifpartnern verhandelt, von den Kantonen als wirtschaftlich erachtet und genehmigt. Einzelne Kantone haben den Tarif als Arbeitstarif festgesetzt.

Alles wie erwartet

Im Kommentar zur Neuregelung der psychologischen Psychotherapie prognostizierte das EDI eine Erhöhung der OKP-Kosten von rund 100 Millionen Franken, die allein durch den Wechsel vom Delegations- zum Anordnungsmodell anfallen. Zusätzlich prognostiziert das EDI längerfristige Mehrkosten von 167 Millionen Franken pro Jahr im Sinne der Verbesserung der Versorgungssituation, wobei nicht definiert wurde, was genau unter «längerfristig» zu verstehen ist. Fest steht aber: In den Prognosen wurde der beschriebene Effekt auf den Stundenansatz, also den Tarif, nicht berücksichtigt, obwohl die zusätzlich anfallenden Kosten durch die Selbstständigkeit naheliegend waren.

Mittels Helsana-Daten auf die Schweizer Bevölkerung hochgerechnet wurde eine Zunahme der psychotherapeutischen Leistungen zwischen 2021 und 2023 von rund 300 Millionen Franken festgestellt. Abbildung 3 zeigt diese Zunahme über 2 Jahre. Ebenfalls ist ersichtlich, wie sich diese Zunahme zusammensetzt: Verschiebung vom privaten Bereich in die OKP, die Anpassung des Tarifs sowie der seit Jahren steigende Bedarf an psychotherapeutischen Leistungen. Ab wann die vom Bund prognostizierten jährlichen Mehrkosten von 167 Mio. Franken anfallen, wurde nicht definiert. Fast zwei Jahre nach dem Systemwechsel ist allerdings ein Teil der Mehrkosten ersichtlich.

In den Prognosen des Bundes fehlt die Anpassung des Tarifs. Daher ist kein vollständiger Vergleich möglich. Die Helsana- Abrechnungsdaten zeigen jedoch, dass die Verschiebung sowie der langfristige Trend in dem vom Bund prognostizierten Rahmen liegen.

Abbildung 3: prognostizierte und erbrachte Leistungen der Psychotherapie 2021/2023

Quelle: Helsana Abrechnungsdaten, hochgerechnet auf die gesamte Schweiz

Zukünftiger positiver Effekt auf Versorgung erwartet

Als mittelfristige Prognose, also für drei bis fünf Jahre nach dem Systemwechsel, wird mit einer höheren Nachfrage nach Psychotherapien gerechnet. Das, weil der Bedarf heute nicht vollständig gedeckt ist und der Zugang zur Psychotherapie niederschwelliger geworden ist. Eine solche Entwicklung dürfte in den verschiedenen Fachgebieten unterschiedlich ausfallen: Beispielsweise zeigt sich in der Kinder- und Jugendpsychotherapie schon seit Jahren eine Unterversorgung. Die Situation wird immer angespannter und die Stimmen, die eine Verbesserung der Situation fordern, wurden seit Corona lauter. Es wäre höchst wünschenswert, wenn der niederschwellige Zugang die Versorgungssituation verbessert.

1Leistungen von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten umfassen die TARMED Nummern 2.02 und 2.03 sowie alle Leistungen des neuen Psychotherapie-Tarifs.
2bag.admin.ch: Änderung der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung (KVV; SR 832.102) und der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV; SR 832.112.31)