Trends und Herausforderungen in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung

Die psychische Gesundheit betrifft viele Menschen in der Schweiz. Das ist nicht überraschend, da psychische Probleme in den letzten Jahrzehnten häufiger auftreten1. Neuste Umfragen zeigen, dass im Jahr 2024 eine von vier Personen über psychische Beschwerden berichtet – ein hoher Anteil, der jedoch in den letzten Jahren weitgehend konstant blieb2.

30.05.2025
Dr. Melanie Amrein
8 Minuten

Um die Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen in der Schweiz zu verbessern, gab es in den letzten Jahren zwei bedeutende Veränderungen: Die Einführung einer neuen Tarifstruktur im stationären Bereich (2018)3 und ein Systemwechsel im ambulanten Bereich (2022)4.

Um einen aktuellen und datenbasierten Überblick über die Versorgungssituation von Personen mit psychischen Problemen in der Schweiz zu erhalten, wird auf Basis von Helsana-Abrechnungsdaten die Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Leistungen zwischen 2020 und 2024 untersucht. Analysiert werden ambulante und stationäre Leistungen sowie die zugrunde liegende psychiatrische Diagnosegruppe. Ein besonderer Fokus liegt auf Personen mit Mehrfach-Hospitalisierungen, die mit Einzel-hospitalisierten Personen verglichen werden, um Hinweise zu gewinnen, damit erneute Hospitalisationen vermieden werden können

Ambulante Versorgung: Steigende Nachfrage und Systemwechsel

Die Inanspruchnahme psychiatrisch-psychotherapeutischer Leistungen nahm in der Grund- und Zusatzversicherung (OKP und VVG) bis 2022 kontinuierlich zu (Abbildung 1, 2). Mit dem Wechsel vom Delegations- zum Anordnungsmodell im Jahr 2022 werden psychotherapeutische Leistungen direkt von der OKP vergütet. Abbildung zwei zeigt, dass dies zu einem Rückgang der entsprechenden Leistungen in der Zusatzversicherung führte, während die Nachfrage in der Grundversicherung weiter anstieg. 4 Frauen und Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren verzeichneten den stärksten Anstieg (siehe Abbildung 1). Im Jahr 2024 bezog jede zehnte Person in der Schweiz mindestens eine ambulante psychiatrisch-psychotherapeutischer Leistung.

Abb.1: Anteil der Personen (in Prozent) mit mindestens einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Leistung in der Grundversicherung

Abb. 2: Anteil der Personen (in Prozent) mit mindestens einer Psychotherapieleistungen in der Zusatzversicherung

Quelle: Helsana

Stationäre Versorgung: Anteil Personen in Psychiatrien konstant

Der Anteil der Personen mit mindestens einer stationären psychiatrischen Hospitalisierung schwankte 2020 bis 2024 nur leicht und lag konstant bei rund 0.6% (siehe Abbildung 3). Trotz Berichten über einen steigenden Druck in den Psychiatrien 3 zeigen die Daten eine weitgehend stabile Inanspruchnahme über die letzten fünf Jahre. Die Daten müssen jedoch mit Vorsicht interpretiert werden: Es könnte sich um einen Deckeneffekt handeln, wenn die Kapazitätsgrenzen von Kliniken bereits ausgeschöpft sind. Zudem zeigen die Zahlen nur, ob es mindestens eine Hospitalisierung gab. Bei Mehrfach-Hospitalisationen in einem Jahr 1 steigt die Belastung der Psychiatrien automatisch an.

Von 2021 auf 2022 gab es einen leichten Anstieg, der 2024 wieder auf das vorherige Niveau zurückging – bei Männern und Frauen sowie über fast alle Alterskategorien hinweg. Dieser leichte Rückgang im Jahr 2024 könnte unter anderem mit dem Fachkräftemangel in der Psychiatrie zusammenhängen. Auch die höhere ambulante Versorgung könnte eine Rolle spielen, da so die stationären Kliniken entlastet und möglicherweise schwerere Verläufe vorgebeugt wurden. Schwerere psychische Erkrankungen, beispielsweise Schizophrenie, können die Belastung in Kliniken zusätzlich erhöhen, da sie längere Behandlungen mit höherem Personalaufwand erfordern.

Abb. 3: Anteil der Personen (in Prozent) mit mindestens einer psychiatrischen Hospitalisierung von 2020 bis 2023

Quelle: Helsana

Diagnoseverteilungen: Stabile Muster mit wenigen Veränderungen

Die Verteilung stationärer psychiatrischer Diagnosegruppen (siehe Kasten) blieb zwischen 2020 und 2024 weitgehend stabil (siehe Abbildung 4). Depressive Störungen (34%) und Störungen durch Substanzen (17%) machten zusammen etwa die Hälfte aller Diagnosen aus. 2021 gab es einen leichten Anstieg des prozentualen Anteils von depressiven Störungen. Auch neurotische Belastungs- und somatoforme Störungen nahmen prozentual leicht zu, während Manische Störungen und Schizophrenien weniger häufiger über alle Diagnosegruppen hinweg vorkamen.

Psychiatrische Diagnosegruppen (basierend nach psychiatrische Kostengruppen nach TARPSY 2024/2025):

  1. Psychische oder Verhaltensstörungen durch Alkohol, andere Drogen oder andere Substanzen
  2. Störungen bei Demenz oder andere organische Störungen des ZNS
  3. Schizophrenie, schizotype oder wahnhafte Störungen
  4. Manische Störungen
  5. Depressive oder bipolar depressive Störungen
  6. Neurotische-, Belastungs- oder somatoforme Störungen
  7. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
  8. Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen, Intelligenz- oder Entwicklungsstörungen
  9. Psychiatrische oder psychosomatische Behandlung ohne psychiatrische oder psychosomatische Hauptdiagnose

Abb. 4: Verteilung psychiatrische Diagnosegruppen im Jahr 2024

Quelle: Helsana

Mehrfach-Hospitalisierungen: Mehr als ein Viertel betroffen

Von rund 15’000 psychiatrisch hospitalisierten Personen in den Jahren 2023 und 2024 wurden 28% mindestens ein weiteres Mal hospitalisiert. Von diesen Mehrfach-Hospitalisierten wurden 59% zweifach, 20% dreifach, 9% vierfach und 12% fünffach oder mehr hospitalisiert.

Häufige Mehrfach-Hospitalisierungen sind keine Neuerscheinung: Im Jahr 2022 waren es 22%, welche in einem Jahr erneut hospitalisiert wurden. 1 Dazu trägt unter anderem bei, dass Kliniken Patientinnen und Patienten früher entlassen müssen, bevor sie ausreichend stabilisiert sind. Ein wesentlicher Grund dürfte sein, dass Platz für neue Patientinnen und Patienten geschaffen werden muss, da sonst die erhöhte Nachfrage nicht befriedigt werden kann und Personen mit schwerwiegenderen Verläufen unbehandelt blieben. Daher müssen frühzeitig Massnahmen ergriffen werden, um Personen vor Mehrfach-Hospitalisierungen zu schützen, beispielsweise mit ambulanten Angeboten.

Ambulante Leistungen mehrfach-hospitalisierter Personen mit depressiven Störungen

Um Hinweise zur Vermeidung erneuter Hospitalisationen zu gewinnen, wurden Personendaten und ambulante Leistungen ein Jahr vor der ersten Hospitalisierung betrachtet. Tabelle 1 vergleicht mehrfach- und einzel-hospitalisierte Personen der Gruppe Depressive Störungen (mit 31% die häufigste Diagnosegruppe der mehrfach-hospitalisierten Personen). Mehrfach-hospitalisierte Personen waren jünger, verursachten höhere ambulante psychiatrische Kosten und erhielten häufiger Psychopharmaka – besonders Psycholeptika (z.B. Schlafmedikamente) und Psychoanaleptika (z.B. Antidepressiva). Auch die Zahl ambulanter psychiatrischer Konsultationen war bei den Mehrfach-Hospitalisierten höher. Dies deutet auf schwerere und somit kostenintensive Verläufe hin, die sich bereits vor der ersten Hospitalisierung abzeichnen.

Interessanterweise unterschieden sich die Gruppen in Bezug auf ambulante Psychotherapien nicht. In beiden Gruppen erhielten rund 45% ein Jahr vor der Hospitalisierung im Schnitt fünf Sitzungen. Mehrfach-hospitalisierte Personen könnten jedoch nicht nur von psychiatrischen, sondern auch von frühzeitigen ambulanten psychotherapeutischen Angeboten profitieren. Psychotherapie gilt laut Leitlinien5 als Standardverfahren bei depressiven Störungen und zeigen gute Wirkungen.

Tabelle 1: Personendaten und ambulante Leistungen ein Jahr vor der Hospitalisierung mit der stationären psychiatrischen Diagnosegruppe Depressive Störung: Aufgeteilt in Personen mit einer einzelnen psychiatrischen Hospitalisierung in den Jahren 2023 und 2024 und Personen mit mehrfach psychiatrischen Hospitalisierungen.

Quelle: Helsana

Fazit

Dieser Bericht zeigt mit den aktuellen Abrechnungsdaten von Helsana aus den Jahren 2020 bis 2024 eine steigende Inanspruchnahme ambulanter psychiatrisch-psychotherapeutischen Leistungen. Dieser Anstieg bestätigt einerseits den erfolgreichen Systemwechsel durch niederschwelligen Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung, verdeutlicht aber andererseits auch einen steigenden Versorgungsbedarf.

Im stationären Bereich blieb die jährliche Inanspruchnahme auf ähnlich hohem Niveau. Ein weiterer Anstieg wurde möglicherweise durch das Erreichen von Kapazitätsgrenzen bei Fachpersonal und Betten begrenzt.

Etwa ein Viertel der psychiatrisch hospitalisierten Personen wird innerhalb von zwei Jahren erneut hospitalisiert. Risikofaktoren für Mehrfach-Hospitalisationen sind laut Literatur beispielsweise Suchtmittelkonsum und bestimmte Medikamente6. Dies zeigt sich auch in unseren Analysen: Mehrfach-hospitalisierten Personen der Diagnosegruppe Depression beziehen ein Jahr vor ihrer ersten Hospitalisation häufiger Psychopharmaka und nehmen häufiger ambulante Leistungen in Anspruch. Jedoch zeigt sich kein Unterschied bei der ambulanten Psychotherapie. Dies überrascht, denn in der Literatur gibt es Hinweise, dass die Psychotherapie Re-Hospitalisation entgegenwirkt7.

Gründe für tiefere ambulante Leistungen könnten sein: Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sind stark ausgelastet, was der Zugang allgemein erschwert; Depressionen werden häufig bei einem Psychiater oder einer Psychiaterin mit Psychopharmaka behandelt; Depressionen werden aufgrund der Stigmatisation immer noch zu wenig erkannt und somit zu wenig ambulant behandelt. Beispielsweise werden bei Männern Depressionen weniger häufig erkannt, da sie andere Symptome, wie Aggressivität oder Ärger aufweisen können. Bekanntere Symptome sind hingegen Hoffnungslosigkeit und Schwermut8.

Trotz unterschiedlichen Gründen ist ein frühzeitiger Zugang zur ambulanten Psychotherapie – insbesondere für Personen mit einem erhöhten Risiko für wiederholte stationäre Hospitalisationen – essenziell, um das Risiko einer Mehrfach-Hospitalisation zu reduzieren. Eine stärkere Integration stationäre und ambulante Angebote gilt als besonders wirksamer Ansatz, um Re-hospitalisierungen zu vermeiden9.

Referenz:
1. OBSAN. Psychische Gesundheit: Kennzahlen 2022. 2024. https://www.obsan.admin.ch/de/publikationen/2024-psychische-gesundheit
2. AXA. Mind Health Report. 2025. https://www.axa.com/en/about-us/mind-health-report
3. OBSAN. Étude d'accompagnement à l'introduction de TARPSY. 2024. https://www.obsan.admin.ch/fr/publications/2024-etude-daccompagnement-lintroduction-de-tarpsy
4. Helsana Standpunkt. Standpunkt. 2023. https://standpunkt.helsana.ch/de/download
5. S3-Leitlinie. Unipolare Depression. 2022. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/nvl-005
6. Owusu E, Oluwasina F, Nkire N, Lawal MA, Agyapong VIO. Readmission of Patients to Acute Psychiatric Hospitals: Influential Factors and Interventions to Reduce Psychiatric Readmission Rates. Healthcare (Basel). 2022;10(9). doi:10.3390/healthcare10091808
7. Paterson C, Karatzias T, Dickson A, Harper S, Dougall N, Hutton P. Psychological therapy for inpatients receiving acute mental health care: A systematic review and meta-analysis of controlled trials. Br J Clin Psychol. 2018;57(4):453-472. doi:10.1111/bjc.12182
8. Salk RH, Hyde JS, Abramson LY. Gender differences in depression in representative national samples: Meta-analyses of diagnoses and symptoms. Psychol Bull. 2017;143(8):783-822. doi:10.1037/bul0000102
9. OBSAN. Drehtüre in der stationären Psychiatrie der Schweiz: Mythos oder empirische Realität? 2010.
Anmerkungen:
- Ambulante Psychotherapie = neuer Psychotherapietarif 581 und TARMED Positionen 2.02 und 2.03;
- Ambulante Psychiatrie = TARMED Position 2.01;
- Arzneimittel des Nervensystems = ATC Code N;
- Psycholeptika = ATC Code N05;
- Psychoanaleptika = ATC Code N06.