Update «integrierte Versorgung»

Die jährlich steigenden Gesundheitskosten belasten das Gesundheitssystem. Ein erfolgsversprechender Weg, die Kosten in den Griff zu bekommen und die Versorgungsqualität zu verbessern, ist die Stärkung und Förderung der integrierten Versorgung.

30.05.2023
Renato Farcher
7 Minuten

Integrierte Versorgung bezeichnet ein auf die ganzheitliche Versorgung gerichtetes Versorgungskonzept. Durch den Zusammenschluss von mehreren medizinischen Fachpersonen wird den Patientinnen und Patienten eine über die gesamte Behandlungskette koordinierte und abgestimmte Betreuung und Behandlung gewährleistet. Integrierte Versorgung basiert dabei auf zwei zentralen Steuerungselementen: Gatekeeping und Koordination.

Gatekeeping bezieht sich auf den Beginn des Behandlungsprozesses. Dabei nehmen die Patientinnen und Patienten bei gesundheitlichen Anliegen immer den gleichen Zugang ins Gesundheitswesen, beispielsweise via Hausarzt. Der Gatekeeper ist die erste Anlaufstelle bei Abklärungen und entscheidet über die Fortführung der Versorgung oder Überweisung zu einem Spezialisten. Er verbessert den Zugang zur medizinischen Versorgung.

Koordination bezieht sich auf die Zeit während des Behandlungsprozesses. Die einzelnen Behandlungen werden durch eine zentrale Stelle, beispielsweise durch den Hausarzt, über die gesamte Behandlungskette koordiniert und mit anderen Leistungserbringern wie Fachärzte, Therapeuten oder Apothekerinnen optimal abgestimmt. Dies fördert den Informationsaustausch zwischen den Sektoren und führt zur stärkeren Vernetzung der medizinischen Fachpersonen.

Integrierte Versorgung fördert Effizienz

Bei einer medizinischen Behandlung sind die einzelnen Therapieschritte oft über verschiedene Leistungserbringer und Sektoren fragmentiert. Die involvierten Stellen sind jedoch teils mangelhaft koordiniert und vernetzt. Dies kann bei Versorgungsschnittstellen auch zur ineffizienten Versorgung führen. Folgen davon sind unerwünschte und kostspielige Ereignisse, zusätzliche medizinische Eingriffe oder Hospitalisierungen. Viele dieser negativen Folgen können durch die integrierte Versorgung vermieden werden. So sollen zentral koordinierte und mit anderen Leistungserbringern abgestimmte Behandlungsprozesse gegen Doppelspurigkeiten wirken und können somit unnötige und potenziell gesundheitsschädliche mehrfach Abklärungen und Behandlungen verhindern. Der Gatekeeper sorgt weiter dafür, dass die Patienten zur richtigen Zeit an die richtige Stelle überwiesen und bedarfsgerecht versorgt werden. Integrierte Versorgung kann damit gegen medizinische Unter-, Über- und Fehlversorgung wirken und für eine effiziente Versorgung sorgen, die die Kosten dämpft und die Versorgungsqualität verbessert. Die positive Auswirkung der integrierten Versorgung ist bei chronisch Kranken und multimorbiden Patienten besonders ausgeprägt. Chronische Erkrankungen sind komplex und erfordern eine kontinuierliche und koordinierte Versorgung zwischen verschiedenen Leistungserbringern. Gerade in der integrierten Versorgung können intensive Koordination gewährleistet und die unterschiedlichen Behandlungen bedarfsgerecht abgestimmt werden.

Akteure fördern integrierte Versorgung

Integrierte Versorgung wird seit dem Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes im Jahre 1996 in der obligatorischen Grundversicherung als alternatives Versorgungsmodell angeboten und von den Krankenversicherern und Leistungserbringern breit gefördert. Über die Jahre sind verschiedene Versorgungsmodelle entstanden. Beim klassischen, vertraglich vereinbarten Hausarztmodell haben Patientinnen und Patienten einen festen Hausarzt, der als Gatekeeper bei medizinischen Anliegen und als Koordinator für weiterführende Behandlungen mit anderen Leistungserbringer fungiert. Der Hausarzt ist an ein Ärztenetz angeschlossen, das mit einer Krankenversicherung einen entsprechenden Vertrag vereinbart hat. Der Vertrag regelt unter anderem die Art der Zusammenarbeit und soll einen Anreiz für eine effiziente, koordinierte und qualitativ optimale Versorgung schaffen sowie unnötige Behandlungen verhindern. Zur Verbesserung der Versorgungsqualität folgt der Hausarzt netzspezifischen Qualitätsstandards und partizipiert beispielsweise an verbindlichen Qualitätszirkeln, in denen komplexe medizinische Fälle oder neue Behandlungsmethoden besprochen werden.

«Noch immer redet kaum jemand über die Vorteile für die Behandlungsqualität, welche sich durch eine koordinierte medizinische Versorgung nachweislich ergeben.»

Forschung bestätigt positive Wirkungen

Seit der Einführung der integrierten Versorgungsmodelle haben wissenschaftliche Studien die Effekte auf Effizienz in Form von Qualitätsverbesserung und Kosteneinsparungen in der Schweiz untersucht. Die wissenschaftliche Evidenz zeigt eine klare Effizienzsteigerung (siehe Box). In einer Studie von 2016 untersuchte die Helsana-Gesundheitswissenschaften den Effekt vom integrierten Versorgungsmodell auf die krankheitsbezogene Hospitalisierung und Gesundheitskosten bei Patienten mit Diabetes, Herz-Kreis-lauf- oder Atemwegserkrankungen. Unter krankheitsbezogene Hospitalisationen fielen stationäre Aufenthalte, die aufgrund der entsprechenden (Begleit-) Erkrankung verursacht wurden. Die Gesundheitskosten umfassten sowohl ambulante als auch stationäre Kosten. Die Studienresultate zeigen, dass sowohl Patienten mit Diabetes als auch Herz-Kreis-lauf-Erkrankungen in einem integrierten Versorgungsmodell im Vergleich zu Patienten in einem Standardmodell ein signifikant geringeres Risiko aufzeigten, in ein Spital eingewiesen zu werden. So war das Hospitalisierungsrisiko für Patienten im integrierten Versorgungsmodell 13 % (Diabetes) und 8 % (Herz-Kreislauf-Erkrankung) tiefer als im Standardmodell. Zudem fielen die Gesundheitskosten in allen drei Patientengruppen im integrierten Versorgungsmodell im Schnitt um zehn Prozent tiefer aus als bei Patienten im Standardmodell. Da sich die Kollektive in den Versicherungsmodellen über die Jahre stark verändert haben, können die Effekte der Studie auf die aktuelle Bestandssituation nicht eins zu eins übertragen werden. Deshalb ist eine Replikation der damaligen Analysen basierend auf aktuellen Daten aufschlussreich. Diesbezüglich zeigen erste Berechnungen jedoch vielversprechende Ergebnisse, nämlich dass das integrierte Versorgungsmodell bei einem deutlich veränderten Versichertenkollektiv sich positiv auf das Hospitalisierungsrisiko und die Gesundheitskosten auswirkt: weniger Spitaleinweisungen und tiefere Leistungskosten.

Mehr Forschung und Daten für die Weiterentwicklung

Die Ergebnisse aus der Forschung zeigen bereits ein vielversprechendes Bild zur Effizienz der integrierten Versorgung auf die Versorgungsqualität und Gesundheitskosten. Um die Vorteile weiter zu belegen und verschiedene Formen der integrierten Versorgung zu evaluieren und weiterzuentwickeln, braucht es mehr Forschung auf validen Gesundheitsdaten. Diese Informationen sind jedoch oft aus datentechnischen und -rechtlichen Gründen nicht zugänglich oder verwendbar, qualitativ mangelhaft oder fehlen ganz. Beispielsweise gibt es nur wenig Sektor und Leistungserbringer übergreifende medizinische Daten, die einen Rückschluss zur gesamten Versorgungskette eines Patienten erlauben. Abrechnungsdaten von Krankenversicherungen gehören dazu. Sie enthalten nicht nur solche übergreifenden Informationen, sondern auch Zeitreihen auf der Ebene von Individuen. Dies ermöglicht die gesamte Versorgungskette einer Patientin oder eines Patienten über die Zeit hinweg darzustellen. Solche Informationen sind essenziell für die Evaluation und Weiterentwicklung der integrierten Versorgung. Es ist zu hoffen, dass sich die Datensituation zukünftig verbessert. Denn nur durch die Schaffung von Transparenz können suboptimale Versorgungssituationen klar identifiziert und die integrierte Versorgung nachhaltig verbessert werden.

Interview mit Nicole Thüring, Leiterin Leistungseinkauf AVM (Alternative Versicherungsmodelle)

Inwiefern hat sich das integrierte Versorgungsmodell über die letzten zehn Jahre verändert?

Integrierte Versorgungsmodelle haben sich von einem Nischenprodukt zu einer sehr beliebten Versicherungsvariante entwickelt. Bei Helsana entscheidet sich heute rund jeder dritte Grundversicherte für ein vertragliches Hausarztmodell. Integrierte Versorgungsmodelle werden jedoch primär als Rabattvehikel positioniert und haben sich nicht vom Image eines restriktiven Sparprodukts befreien können. Noch immer redet kaum jemand über die Vorteile für die Behandlungsqualität, welche sich durch eine koordinierte medizinische Versorgung nachweislich ergeben. Nicht alle alternativen Versicherungsmodelle fördern jedoch die Koordination und die Qualität in gleichem Masse – eine spezifische Kooperation zwischen Krankenversicherern und motivierten Leistungserbringern ist eine wichtige Basis dafür.

Was sind die grössten Chancen?

Datentransparenz und Selektivität sehe ich als grosse Chancen: Innerhalb von integrierten Versorgungsmodellen ist es möglich, Behandlungsinformationen gezielt mit den involvierten Leistungserbringern zu teilen. So können unter anderem Abrechnungsdaten nutzbar gemacht werden, um die Behandlungsqualität zu verbessern. Hier liegt viel Potential brach und es dürfte sich mit zunehmender Digitalisierung noch einiges bewegen. Und wenn die Krankenversicherer in diesen Modellen selektiv kontrahieren, also unwirtschaftliche oder qualitativ ungenügende Leistungserbringer nicht im Angebot haben, trägt dies zu einer weiterhin bezahlbaren, qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung bei. Und last but not least: In Regionen mit Hausarztmangel können integrierte Versorgungsmodelle den Zugang zu einem persönlichen Hausarzt sicherstellen.

Was ist die grösste Herausforderung des integrierten Versorgungsmodells?

Die abnehmenden Ressourcen der Hausärzte sind auch in integrierten Versorgungsmodellen spürbar. Neue Versorgungsmodelle mit Einbezug von nichtärztlichen Fachpersonen haben sehr hohe Hürden zu nehmen, weil das regulatorische Korsett eng ist. Für den künftigen Erfolg von nutzenstiftenden integrierten Versorgungsmodellen braucht es einen Rahmen, der unternehmerische Lösungen ermöglicht und Fehlanreizen im bestehenden System entgegenwirkt. Warum sollte ein Leistungserbringer unternehmerische Risiken auf sich nehmen, wenn es sich mit der gegenwärtigen Regelversorgung genauso gut leben lässt?