Was bleibt von der freiwilligen Krankenzusatzversicherung?
Seit 1996 verfügt die Schweiz in der Krankenversicherung über das zweigeteilte System der obligatorischen Grund- und der freiwilligen Zusatzversicherung. Die durch die Grundversicherung (KVG) garantierte qualitativ hochstehende medizinische Versorgung wird durch die Zusatzversicherung (VVG) ergänzt. Parallel zum stetigen Ausbau des Leistungskataloges in der Grundversicherung verfolgt die Branche die zunehmende Fokussierung auf Konsumentenschutz und finanzielle Begrenzungen in der Zusatzversicherung mit wachsender Besorgnis.
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Auf operativer Ebene – und mit der AVO-Teilrevision nun auf Verordnungsstufe legitimiert – wird die Krankenzusatzversicherung zunehmend als besonders schützenswert betrachtet und damit nicht nur in die Nähe der Sozialversicherung gerückt, sondern direkt auf deren Stufe gehoben. Der Gesetzgeber trennt demgegenüber jedoch klar: So verweist das Bundesgesetz betreffend Aufsicht über die soziale Krankenversicherung (KVAG) die Zusatzversicherung in das privatrechtliche Versicherungsvertragsgesetz (VVG).
Die privatrechtliche Gesetzgebung zeichnet sich – im Gegensatz zur öffentlich-rechtlichen – dadurch aus, dass zwischen den Vertragsparteien ein partnerschaftliches Verhältnis herrscht. Dieses wird durch das marktwirtschaftliche Prinzip von Angebot und Nachfrage bestimmt. In Bereichen, in denen ein Machtungleichgewicht besteht beziehungsweise bestehen könnte, sehen die Gesetze besondere Bestimmungen zum Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten vor, zum Beispiel im Arbeits- und Mietrecht oder eben im Versicherungsvertragsrecht. So dürfen Krankenversicherer die Verträge mit Versicherten seit der VVG-Revision per 1. Januar 2022 gesetzlich geregelt nicht mehr einseitig kündigen. Dabei beschränkt sich der Schutz jedoch auf eine Regelung in den entsprechenden privatrechtlichen Gesetzen. Interessant an dieser Neuregulierung ist, dass die gesamte Krankenzusatzversicherungsbranche bis anhin freiwillig auf ihr Kündigungsrecht verzichtet hat.
Salamitaktik als Methode
Das Verhältnis zwischen Versicherung und Kunde in der Krankenzusatzversicherung wird zunehmend aufsichts- statt privatrechtlich geregelt. Die Entwicklung im Laufe der Jahre zeigt dies deutlich auf.
2006 ist im Rahmen der VAG-Teilrevision Artikel 31 neu eingefügt worden. Damit wurde der Bundesrat ermächtigt, den Missbrauchsschutz für verschiedene Versicherungszweige auf Verordnungsstufe zu konkretisieren. Kritisiert wurde bereits damals, dass diese Kompetenzdelegation weder den Anforderungen an die Rechtssicherheit noch an das Legalitätsprinzip genügt. Sie ist zu generisch formuliert und der Missbrauchsbegriff wird auch in der aktuellen Teilrevision im VAG nicht definiert. In der Krankenversicherung akzentuierte sich diese Problematik damals insofern, als die präventive Tarifkontrolle nicht wie ursprünglich geplant aufgehoben, sondern in der parlamentarischen Debatte in letzter Minute beibehalten wurde. Die Begründung war, dass die «private Krankenversicherung von den Leistungen, der Umschreibung und dem Risiko her der Grundversicherung sehr nahe» stehe. Selbst das Bundesgericht hielt in der Folge in einzelnen Entscheiden fest, dass die Zusatzversicherung «Dienstleistungen im Gesundheitsbereich» abdecke und damit «sozialpolitische Überlegungen in diesem Bereich nicht ignoriert werden dürften». Zumindest darf kritisch hinterfragt werden, weshalb sich das Bundesgericht auf eine (zu) weit gefasste Delegationsnorm im Rahmen der Missbrauchsaufsicht stützt, für die im Gesetz keine Grundlage, zumindest keine genügende, erkennbar ist.
Damit wurde eine ganze Reihe von Anordnungen legitimiert. Nebst einer fragwürdigen Höchstgrenze für die Gewinnmarge, hat die Aufsichtsbehörde in ihrem Rundschreiben für die Krankenzusatzversicherung auch die Möglichkeiten von Tariferhöhungen – trotz wachsender Kosten – weitestgehend eingeschränkt. Der Handlungsspielraum der Krankenzusatzversicherer wurde damit erneut enger und wird einer marktkonformen Ausrichtung nicht mehr gerecht.
Der neueste Coup: Die Verwendung der Rückstellungen reguliert
Die Tendenz hin zur sozialen Krankenzusatzversicherung wird nun definitiv mit der aktuellen AVO-Teilrevision weiter verschärft. Ursprünglich war geplant, dass die FINMA nicht nur die Kompetenz erhält, über Art und Umfang der Rückstellungen sämtlicher Versicherungszweige zu entscheiden, sondern auch über deren Verwendung. Die Branche hat dies im Rahmen der Vernehmlassung scharf kritisiert. Als sogenannter «Kompromissvorschlag» wurde in der Folge bei allen Versicherungszweigen, ausser der Krankenversicherung, auf diese Kompetenz verzichtet. Nicht nur, dass wiederum einzig die Krankenversicherer betroffen sind – der Vorschlag wurde erst dann bekannt, als eine Stellungnahme dazu nicht mehr möglich war. Doch damit nicht genug – die Neuregelung von Artikel 154a AVO geht sogar weiter als jene in der sozialen Krankenversicherung. Die politische Diskussion über den Reserveabbau und die Rückzahlung von Reserven in der Grundversicherung dürfte den Bundesrat dazu beflügelt haben. In der Grundversicherung wurde bisher darauf verzichtet, den Reserveabbau zwingend anzuordnen.
Es wird weiterhin von Freiwilligkeit gesprochen. Was in der Grundversicherung somit freiwillig bleibt, ist in der Zusatzversicherung – unter Verweis auf die «Nähe zur sozialen Krankenversicherung» – als zwingend in die Verordnung eingeflossen. Dies ist absurd und muss vom Gesetzgeber kritisch hinterfragt werden.
Ausblick: Abschaffung der Zusatzversicherung?
Der ursprüngliche und legitime Leitgedanke des Gesetzgebers, das besondere Schutzbedürfnis der Versicherten in der Krankenzusatzversicherung zu verankern, hat mit der aktuellen AVO-Teilrevision eine bedenkliche Entwicklung genommen. Zunehmend halten die Prinzipien der Sozialversicherung in eine marktwirtschaftlich organisierte Branche Einzug – oder gehen sogar darüber hinaus.
Die Folgeregulierung steht noch aus: Die FINMA wird zahlreiche Bestimmungen der Revision in ihrer eigenen Verordnung (AVO-FINMA) sowie in diversen Rundschreiben «konkretisieren» müssen. Man darf gespannt sein, ob und in welchen Bereichen die Tendenz zur Abschaffung der Krankenzusatzversicherung als Player in einem freien Markt weiter vorangetrieben wird. Es ist also an der Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, ob und wie man das duale Krankenversicherungssystem in unserem Rechtsrahmen weiterentwickeln will, statt mit einer «Salamitaktik» stetig Abbau zu betreiben.